Hierarchielos aber nicht führungslos

Um dynamischer und schneller zu agieren, lassen viele Unternehmen traditionelle hierarchische Strukturen hinter sich. Sie setzen auf agile Organisationsformen ohne formale Chef*innen. Das fordert das gängige Verständnis von Führung heraus. Was sich tatsächlich für Führungskräfte ändert, erfährst du hier.

Geteilte Führung und Führungsrollen

Zu agilen Organisationsformen gehören Konzepte wie „Selbstorganisierte Teams“, „Holokratie“, „Scrum“ oder „Netzwerkorganisationen“. Im Kontrast zu traditionellen Strukturen werden die einzelnen Aufgaben hier nicht in Stellenprofilen festgehalten. Stattdessen werden Verantwortlichkeiten und Aufgaben (sogenannte Rollen) dynamisch auf verschiedene Teammitglieder verteilt, wobei deren Stärken und Kenntnisse berücksichtigt werden. Das gilt auch für Führungsaufgaben. Die Konsequenz: Entscheidungen treffen nicht mehr einzelne, formal festgelegte Führungskräfte. Sie sind das Ergebnis von Teamprozessen.

Die Führungsaufgaben verschwinden nicht, sondern können auf verschiedene Personen immer wieder neu verteilt werden. Dabei rücken insbesondere vier Führungsrollen in den Fokus, die in agilen Organisationen zum Tragen kommen.

1. Die Navigator*innen: Zielvorgaben klären und im Blick behalten

 

Auch wenn agile Teams ihre Ziele teilweise selbst setzen, ist Abstimmung erforderlich. Teamziele richten sich entweder an Organisationsziele aus oder werden gemeinsam mit externen Anspruchsgruppen (z. B. Kund*innen) definiert. Das Team im Prozess der Zieldefinition zu begleiten, die Zielerreichung regelmässig zu prüfen und bei Bedarf zu intervenieren, benötigt also weiterhin Führung. So kennt Scrum z. B. die Rolle des „Product Owner“, also die Person, welche die Wünsche der Anspruchsgruppen aufnimmt und mit dem Team in Zielvorgaben übersetzt. Die Holokratie kennt den „Lead Link“, also jene Rolle, die für die Entwicklung der Team-Strategie und Koordination der Ressourcen-Zuteilung verantwortlich ist.

2. Die Moderator*innen: Teamprozesse unterstützen

Entscheidungen sind in agilen Teams oft das Resultat von Teamdiskussionen. Treffen dabei verschiedene Fachexperten mit verschiedenen Perspektiven und Kenntnissen aufeinander, wird es anspruchsvoll. Kollaborative Entscheidungsfindung zu moderieren, bei Konflikten zu vermitteln und die Zusammenarbeit im Team zu fördern, ist demnach eine weitere bedeutungsvolle Führungsaufgabe. In Scrum kennt man hierfür die Rolle der „Scrum Masters“, in der Holokratie jene der „Facilitatoren“. Diese Rollen ziehen beim Sicherstellen, dass Teamprozesse funktionieren und Regeln aufgestellt und eingehalten werden, dann entsprechend die Regelwerke von Scrum oder Holokratie ein.

3. Die Botschafter*innen: Mit anderen Teams abstimmen

Teamarbeit findet natürlich nicht in einem Vakuum statt. Das Social Media Team muss sich z. B. mit dem Marketing-Team und dem PR-Team abstimmen. Das Human Ressource Team muss seine Pläne für die Personalplanung und -entwicklung in Abstimmung mit dem Strategie-Team festlegen. Den zielgerichteten Informationsfluss ins und aus dem Team heraus sicherzustellen und sich zielgerichtet zu vernetzen und Einfluss zu nehmen, ist also eine weitere Führungsaufgabe (sogenanntes „Boundary Spanning“ – also soziales Grenzgängertum). In der Holokratie übernimmt diese Rolle z. B. der „Rep(räsentations)-Link“, das ist die Person, die in Entscheidungs-Meetings von relevanten andere Teams, einsitzt.

4. Die Coaches: Mitarbeitende befähigen und Lernen fördern

Damit im ganzen Tagesgeschäft die langfristige Perspektive nicht verloren geht, sehen agile Organisationsformen oft auch spezifische Rollen vor, die sich der Weiterentwicklung der Organisation als Ganzes annehmen. Sie befähigen Mitarbeitenden zur Anwendung von agilen Methoden und etablieren das „agile Mindset“, also die Organisationskultur, die es für agiles Arbeiten braucht. Ebenso gehört das Förden von organisationalem Lernen dazu, das umfasst Missstände zu erkennen, funktionierende Praktiken zu etablieren und die Organisation und die Menschen darin ständig zielführend Weiterzuentwickeln. So kennt z. B. Scrum die „Agile Coaches“, denen genau diese Transformations- und Kulturarbeit und damit eine klassische Führungsrolle zukommt.

Hierarchielos bedeutet nicht führungslos

Trotz flacheren Hierarchien gehen die traditionellen Führungsaufgaben also nicht verloren. Sie werden vielmehr neu organisiert und flexibler auf mehrere Personen im Team verteilt. Diese Arbeitsweise kann anspruchsvoll sein und gerade du, mit deiner Führungserfahrung, kannst daher eine Mehrwert liefern, von dem das ganze Team profitiert. Hierarchielose Strukturen haben zudem für dich den Vorteil , dass auch du flexibler in der Definition deiner Führungsrollen bist und sie dir gemäss deinen Stärken und Präferenzen besser zurechtlegen kannst. In welchen Rollen siehst du dich also gerne?

Quellen:
  • Bernstein, E., Bunch, J., Canner, N., & Lee, M. (2016). Beyond the holacracy hype. Harvard business review, 94(7), 8-13.

  • Schell, S., & Bischof, N. (2022). Change the way of working. Ways into self‐organization with the use of Holacracy: An empirical investigation. European management review, 19(1), 123-137.

  • Schwaber, K., & Sutherland, J. (2021). The Scrum Guide. 2020.  Abrufbar unter: *https://scrumguides.org/*

  • Zhu, J., Liao, Z., Yam, K. C., & Johnson, R. E. (2018). Shared leadership: A state‐of‐the‐art review and future research agenda. Journal of Organizational Behavior, 39(7), 834-852.

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